Hier findet ihr die Pressemitteilung sowie zwei Redebeiträge (Sous la Plage & Initiative 9. Oktober Halle) der Kundgebung „Gegen jeden Antisemitismus“ am 12.02.2021. Eine Presseschau gibt es auf Facebook in den Kommentaren, weitere Fotos ganz unten in diesem Beitrag.
Pressemitteilung vom 12.02.2021:
Bericht zur Kundgebung 12.02.2021 – Antisemitismus kein Tatmotiv? Am Freitag, den 12. Februar 2021 versammelten sich ab 8.30 Uhr am Sievekingplatz 3 vor dem Strafjustizgebäude über 50 Menschen auf einer Kundgebung gegen Antisemitismus. Anlass der Kundgebung war der Prozessbeginn gegen den Täter des antisemitischen Angriffs auf einen 26-jährigen Juden vor der Synagoge Hohe Weide am 4.10.2020. Die Staatsanwaltschaft Hamburg geht nicht von Antisemitismus als Tatursache aus. Dabei richtet sich der Hass des Täters gegen Juden und Jüdinnen und in seiner Hosentasche wurde sogar ein Hakenkreuz gefunden. Während die Staatsanwaltschaft Hamburg kein antisemitisches Motiv erkennen will, erklärte bspw. Philipp Stricharz, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Hamburg am 8. Januar 2021 im NDR, es müsse anerkannt werden, dass sie als jüdische Gemeinschaft bedroht sind. Am Antisemitismus der Tat könne es keinen Zweifel geben. Auf der Kundgebung wurden mehrere Redebeiträge gehalten. Die Forderungen der Kundgebung lauteten: - Solidarität mit dem Betroffenen des antisemitischen Angriffs vom letzten Herbst an der Synagoge Hohe Weide und der jüdischen Gemeinde Hamburg. Solidarität mit allen Betroffenen antisemitischer und anderer rechter Gewalt - Die Einschätzungen von Betroffenen ernst nehmen und ihre Forderungen unterstützen - Benennung von Antisemitismus als Tatmotiv - Benennung des Antisemitismus der Dominanzgesellschaft als Nährboden und Grundlage für antisemitische Gewalttaten und Terror Ein Redebeitrag war von der Initiative 9. Oktober Halle, der Initiative zum Gedenken an die Opfer des antisemitischen, rassistischen und antifeministischen Anschlags in Halle. Die Initiative 9. Oktober Halle erklärte im Redebeitrag: „Der Angriff am 4. Oktober 2020 in Hamburg, fast genau ein Jahr nach dem Anschlag vom 9.Oktober 2019 in Halle, erinnert in einigen Details auffällig an diesen. So fand der Angriff ebenso zur Zeit eines jüdischen Feiertages statt, wie auch der Täter militärische Kleidung trug. Aus unserer Sicht ist es nicht hinnehmbar, dass der Antisemitismus in dem nun beginnenden Verfahren nicht thematisiert werden soll.“ Im Redebeitrag der Gruppe souslaplage hieß es: „Die Hamburger Staatsanwaltschaft trägt mit ihrer Einschätzung, die Tat sei nicht antisemitisch gewesen, dazu bei die deutsche Mehrheitsgesellschaft von ihrer Verantwortung für die Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlich grassierenden Antisemitismus zu befreien. Damit beteiligt sich die Justiz, wie auch schon in der Vergangenheit, wenn bei rechten Angriffen etwa rassistische Motive unter den Tisch fallen gelassen wurden, selbst an der Normalisierung rechten Terrors.“ Es gibt eine lange Geschichte rechten Terrors und antisemitischer Angriffe in Deutschland und viel zu viele aktuelle Beispiele. Dennoch werden Taten oft entpolitisiert und die gesellschaftliche Grundlage ausgeblendet. Taten werden stattdessen als einzelnes Ereignis, begangen von Einzeltäter:innen, betrachtet. In dieses Narrativ will die Kundgebung intervenieren: Anne Blücher, eine der Organisator:innen der Kundgebung: „Wir stellen fest, dass nach rechtsterroristischen Anschlägen in Deutschland in der Vergangenheit häufig die Biographien der Täter:innen nach Anzeichen für psychische Erkrankungen durchleuchtet oder mindestens deren familiäre Sozialisierung in den Vordergrund gerückt wird. Dadurch wird – wie auch hier – das politische Motiv der Taten negiert. Statt eine rechte oder antisemitische Ideologie zu erkennen, werden die Täter:innen pathologisiert und als Einzeltäter:innen aus ihrem gesellschaftlichen Kontext herausgelöst.“ „Wir müssen denjenigen, die Angriffen von Antisemit:innen und anderen Rechten ausgesetzt sind und davon bedroht sind, zuhören. Wir müssen ihre Einschätzungen ernst nehmen und ihre Forderungen unterstützen“, forderte eine Besucherin der Kundgebung. Das Foto im Anhang ist eine Aufnahme der Kundgebung. Das Foto kann unentgeltlich genutzt werden. Der Aufruf zur Kundgebung: https://www.souslaplage.org/kundgebung-12-02-21-gegen-jeden-antisemitismus/ Mail: antigravitationistische@nadir.org
Redebeitrag Sous la Plage:
Wir, die Gruppe Souslaplage, sprechen dem Betroffenen des antisemitischen Angriffs vom letzten Herbst an der Synagoge Hohe Weide und der jüdischen Gemeinde Hamburgunsere volle Solidarität aus. Wir klagen den Antisemitismus des Täters an und sind wütend darüber, dass die Staatsanwaltschaft dies nicht tut.
Zwar steht der Täter heute vor Gericht und ihm droht eine Verurteilung wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung. Das Tatmotiv „Antisemitismus“ wird von der Staatsanwaltschaft allerdings nicht benannt, denn diese geht wegen einer psychischen Erkrankung des Täters nicht davon aus, dass er „rechtsextremistische oder antisemitische Ziele verfolgte“ – und das, obwohl der Täter nachweislich gezielt die Synagoge Hohe Weide aufsuchte. Er ließ sich mit dem Taxi dorthin fahren, um dort Jüdinnen und Juden anzugreifen.
Anlässlich des diesjährigen Gedenktages an die Opfer des Nationalsozialismus sagte Justizsenator Till Steffen: „Die Staatsanwaltschaft ist sensibilisiert, antisemitische Delikte konsequent zu verfolgen.“ Die Ermittlungspraxis der Staatsanwaltschaft vermittelt in diesem Fall allerdings einen ganz anderen Eindruck. Warum benennt die Staatsanwaltschaft den Antisemitismus des Täters nicht und legt den Fokus stattdessen auf dessen Pathologisierung?
Es geht uns nicht darum über die psychische Verfassung des Täters zu spekulieren, wir stellen aber fest, dass es nach rechtsterroristischen Anschlägen in Deutschland in der Vergangenheit häufig die Tendenz gab, die Biographien der Täter*innen nach Anzeichen für psychische Erkrankungen zu durchleuchten
oder mindestens deren familiäre Sozialisierung in den Vordergrund zu rücken. Dadurch wird – wie auch hier – das politische Motiv der Taten negiert. Anstatt eine rechte oder antisemitische Ideologie zu erkennen, werden die Täter*innen pathologisiert und als Einzeltäter*innen aus ihrem gesellschaftlichen Kontext herausgelöst.
Der Verfolgungswahn des Angreifers von Hamburg, der sich laut Staatsanwaltschaft von Dämonen und Reptiloiden verfolgt fühlte, ist nicht einfach nur sein persönliches Hirngespinst. Diese Paranoia speist sich aus antisemitischen Vorstellungen, die in Deutschland – dem Land, das die Shoa zu verantworten hat – weit verbreitet sind. Mehr als ein Viertel der Deutschen soll jüngerer Befragungen zufolge etwa der Aussage zustimmen, Jüdinnen und Juden hätten zu viel Macht in der Weltpolitik. Vernichtungsfantasien sind die Konsequenz solcher antisemitischer Verschwörungserzählungen und die Täter*innen fühlen sich durch rechte Diskurse dazu ermächtigt zur Tat zu schreiten.
Es sind gesellschaftliches Zustände, die rechten Terror und auch den Angriff auf den jüdischen Studenten vor der Synagoge in Hamburg erst möglich machten und erfolgreich werden ließen. Diese Zustände müssen als politisch kritisiert und bekämpft werden. Die Frage, ob ein*e Täter*in „psychisch gesund“ ist, oder nicht – ob er*sie schuldunfähig ist, oder nicht – spielt für die Beurteilung des antisemitischen Gehaltes einer Tat keine primäre Rolle. Der Täter von Hamburg mag alleine gehandelt haben, er mag schuldunfähig sein, doch er handelte nach einer Ideologie, die er sich nicht alleine ausgedacht hat.
Die Hamburger Staatsanwaltschaft trägt mit ihrer Einschätzung dazu bei die deutsche Mehrheitsgesellschaft von ihrer Verantwortung für die Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlich grassierenden Antisemitismus zu befreien. Damit beteiligt sich die Justiz, wie auch schon in der Vergangenheit, wenn bei rechten Angriffen etwa rassistische Motive unter den Tisch fallen gelassen wurden, selbst an der Normalisierung rechten Terrors. Für weite Teile der Öffentlichkeit der Dominanzgesellschaft existieren rechter Terror oder Antisemitismus, trotz ihrer Kontinuitäten in Deutschland, schlicht und ergreifend nicht. Für die Betroffenen ist die Bedrohung hingegen sehr real. Bei ihnen kommen die Gewaltakte rechter, antisemitischer oder auch rassistischer Angreifer*innen als Botschaftstaten an. Die Angriffe treffen also nicht nur die körperliche Unversehrtheit der direkt Betroffenen, sondern sollen alle potenziell Betroffenen in Angst versetzen, sie einschüchtern, sie in ihrem Alltag einschränken, ihre politische Partizipation ersticken und sie damit letztendlich gesellschaftlich ausgrenzen. Wir müssen denjenigen, die Angriffen von Antisemit*innen und anderen Rechten ausgesetzt sind, zuhören und ihre Einschätzungen, Sorgen sowie Wünsche ernst nehmen. Und wir müssen Antisemitismus benennen um Antisemitismus entschieden bekämpfen zu können. Egal wo und in welcher Form er uns begegnet: Name it, face it!
Unser Hass und unser Kampf gilt allen Antisemit*innen und den Verhältnissen, die sie hervorbringen; Unsere volle Solidarität dem Angegriffenen und allen anderen von Antisemitismus betroffenen.
Redebeitrag der Initiative 9. Oktober Halle:
Redebeitrag der Initiative 9. Oktober Halle für die Kundgebung in Hamburg am 12. Februar 2021 in Hamburg Der Angriff am 4. Oktober 2020 in Hamburg, fast genau ein Jahr nach dem Anschlag vom 9.Oktober 2019 in Halle, erinnert in einigen Details auffällig an diesen. So fand der Angriff ebenso zur Zeit eines jüdischen Feiertages statt, wie auch der Täter militärische Kleidung trug. Aus unserer Sicht ist es nicht hinnehmbar, dass der Antisemitismus in dem nun beginnenden Verfahren nicht thematisiert werden soll. Antisemitismus wird geduldet, wenn er als Motiv für antisemitische Angriffe nicht in das Verfahren einbezogen wird. Das gilt auch dann, wenn der Täter, wie hier, als psychisch krank gilt. Die psychoanalytische Sozialpsychologie zeigt, dass individuelle und kollektive Wahnvorstellungen eng miteinander verbunden sind und sich daher nicht einfach voneinander trennen lassen. Es gibt in diesem Fall eindeutige Hinweise auf ein antisemitisches Motiv, die als solche auch dann anzuerkennen sind, wenn eine individuelle psychopathologische Diagnose gestellt wird. Das Erscheinen kollektiver ideologischer Vorstellungen, wie es antisemitsche sind, in individuellen psychischen Beschädigungen, müsste dazu veranlassen, diesem Zusammenhang genauer nachzugehen, statt ihn einfach auszublenden, indem der Täter als ausschließlich individuell psychisch wahnhaft verstanden wird und nur in dieser Rolle über ihn verhandelt wird. Das Wahnhafte auch der kollektiven ideologischen Vorstellungen des Antisemitismus wird gerade in seiner Erscheinung in der individuell beschädigten Psyche überdeutlich und wäre als solches auch hier klar herauszustellen. Die Abwehr der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Voraussetzungen und Bedingungen antisemitischer und rechter Potentiale zieht sich durch alle gerichtlichen Verfahren gegen antisemitische und rechte Straftäter in den letzten Jahrzehnten. Als letztes sind da die medial mit viel Aufmerksamkeit bedachten Verfahren gegen den NSU und gerade erst gegen den Täter von Halle und den Mörder von Walter Lübcke zu nennen. Dem gleichen Prinzip folgten aber auch schon die Ermittlungen und Verfahren zum Anschlag auf das Oktoberfest, zum antisemitischen Anschlag von Erlangen oder zum Anschlag in der Halskestraße hier in Hamburg, die alle 1980 stattfanden. Das Prinzip des Schlussstriches, das die Abwehr der gesellschaftlichen Auseinandersetzung und somit die Abwehr gesellschaftlicher Konsequenzen bedeutet, ist allen diesen Verfahren gemeinsam. Es ist einerseits im bürgerlichen Recht selbst angelegt, nach dem Urteile immer nur über die Schuld Einzelner für individuelle Taten gesprochen werden. Für die bürgerliche Gerichtsbarkeit ist damit ihre Aufgabe, die darin besteht, die bürgerlich-demokratische Ordnung zu schützen und Verstöße gegen sie zu ahnden, erledigt. Dieses Prinzip, dass in der bürgerlichen Justiz alle Straftaten nur als einzelne verfolgt werden, schützt aber die bestehende Ordnung noch in einem viel weitgehenderen Sinn, so wie es in den letzten Jahrzehnten immer wieder zu beobachten war. Zum einen werden die organisierten und virtuellen Netzwerke, aus denen die meisten antisemitischen oder rechten Gewalttaten hervorgehen, nicht aufgedeckt und damit bleiben die von ihnen ausgehenden ideologischen Gefahren und Gewaltpotentiale bestehen. Das betrifft auch die Sicherheitsapparate selbst sehr stark, wie es in den letzten Jahren immer deutlicher erkennbar wurde. Auf der anderen Seite aber, was bei diesem Fall hier entscheidender sein dürfte, werden die gesellschaftlichen Voraussetzungen, die zu rechten und antisemitischen ideologischen Vorstellungen führen, von der Thematisierung durch dieses Prinzip prinzipiell ausgeschlossen. Genau das aber wäre die Aufgabe im Sinne einer wirklichen Befreiung vom Antisemitismus: die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Bedingungen, aus denen antisemitische, rassistische und antifeministische Ideologien hervorgehen, mit dem Ziel der Befreiung von ihnen. Zu erkennen, dass die Versäumnisse, die Fehler und das Versagen der staatlichen und juristischen Apparate ein systemischer Teil der bestehenden Verhältnisse insgesamt sind, ist ein entscheidender Schritt auf dem Weg, die Einrichtung dieses Ganzen in Frage zu stellen, das den Antisemitismus immer wieder hervorbringt und ihn zugleich immer wieder verleugnet. Wir erklären uns solidarisch mit dem angegriffenen jüdischen Studenten und allen, die antisemitisch bedroht werden, und fordern die Benennung und Einbeziehung des antisemitischen Tatmotivs in das hier beginnende Verfahren. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den Bedingungen des Antisemitismus darf durch Dethematisierung nicht abgewehrt werden, sondern ist überall zu führen.